Dämonenglaube und Wüste im heutigen Orient

Die Wüste ist bis heute eine bedrohliche Anderswelt in der Folklore der arabischen Halbinsel, Nordafrikas und Zentralasiens, wo sie Heimstätte von Geistern und Dämonen ist. Ein besonders grausiger Wüstenbewohner ist der Ghul. Diese Kreatur nimmt Tiergestalt oder die Gestalt einer attraktiven Frau an, um Reisende an einsame Orte zu locken und zu verschlingen.

Der bekannteste europäische Orientreisende des Mittelalters, Marco Polo, schreibt in seinem Reisetagebuch, dass „die Wüste vielen bösen Geistern zum Aufenthalt dient, die dem Reisenden allerlei sonderbares Blendwerk zu ihrem Verderben vorführen … Bisweilen rufen die Geister ihn beim Namen, und so, heißt es, wird ein Reisender oft in die Irre geführt … Auch am Tage hört man diese Geister sprechen. Bisweilen soll man die Töne von einer Menge verschiedener Musikinstrumente vernehmen und noch öfter den Klang von Trommeln.“ Es braucht nicht viel Fantasie, um bei diesen geheimnisvollen Stimmen und Klängen an Wüstenwinde oder an das Phänomen „singender“ Sanddünen zu denken.

Die berühmtesten Wüstengeister aber sind die Dschinnen. Sie können fliegen, von Menschen Besitz ergreifen und ihre Gestalt verändern. Im Volksglauben sind sie vor allem in Ruinen und Felsformationen zu finden, und so manch einsamer Baum in der Wüste wird als ihr Garten angesehen. Um diese Wesen nicht zu verärgern, nähert man sich diesen Orten stets vorsichtig, mit einer Gebetsformel auf den Lippen. Jedoch gelten die Dschinnen nicht ausnahmslos als böse: Laut dem Koran seien einige unter ihnen gottesfürchtige Muslime (Sura 72 al-Ğinn).

Die ersten Übersetzungen der Erzählungen von „Tausendundeiner Nacht“ brachten die Geschichten um Dschinnen und Ghule im 18. Jahrhundert auch nach Europa, wo sie bald zu einer Orientbegeisterung beitrugen und unser heutiges Bild der Wüste mitgeprägt haben.

In der Geschichte Des Prinzen Abenteuer mit der Ghulin verirrt sich ein Prinz auf der Jagd in der Wüste, wo ihm eine Ghulin in Gestalt einer schönen Prinzessin erscheint. Als der Prinz bemerkt, dass es sich bei seiner Begleiterin um eine böse Dämonin handelt, vermag er sich wiederum mit einem Stoßgebet zu retten:

„Da wurde er plötzlich gewahr, dass sie eine Ghulin war, indem er sie zu ihren Jungen sagen hörte: ‚Kinder, ich bringe euch heute einen fetten Burschen‘, worauf die Jungen riefen: ‚Ach, Mutter, bring ihn uns, damit wir ihn auffressen.‘ Als der Prinz dies hörte, hielt er sich für verloren und kehrte mit zitternden Muskeln und in Todesfurcht wieder um. … Da erhob der Prinz sein Haupt zum Himmel und betete laut zu Gott, dass er ihn vor der Bosheit seines Feindes retten möge, da er alles vermag, was er nur will. Als die Ghulin sein Gebet vernahm, lief sie fort; der Prinz aber kehrte unbeschadet zu seinem Vater zurück.“

 

Arabisches Manuskript (Kitab al-Bulhan, Das Buch der Wunder).
Versammlung von Dämonen (Dschinnen) mit verschiedenen Tierköpfen; rechts der schwarze König der Dschinnen (spätes 14. Jh.). Bodleian Libraries (MS Bodl. Or. 133, Fol. 30b).

Illustration zu den Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“. Der Geist kommt aus der Flasche. Zeichnung von Edmund Dulac (1882-1953).

Diese Darstellung wild tanzender Dämonen greift buddhistische Malereien aus Indien und China auf. Kolorierte Tuschzeichnung (Miniatur). Entstehungsort: Turkestan (Anfang 15. Jh.).