Der Zauberwald im mordernen Märchen

„‚Wie sollen wir nun aus dem Wald kommen?‘ Hänsel aber tröstete sie: ‚Wart nur ein Weilchen, bis der Mond aufgegangen ist, dann wollen wir den Weg schon finden.‘ Und als der volle Mond aufgestiegen war, so nahm Hänsel sein Schwesterchen an der Hand und ging den Kieselsteinen nach, die schimmerten wie neugeschlagene Batzen und zeigten ihnen den Weg.“
Jacob und Wilhelm Grimm, Hänsel und Gretel. Kinder- und Hausmärchen 15 (Berlin 1812).

Als Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert mit der Sammlung volkstümlicher Erzählungen begannen, rechneten sie nicht damit, dass ihre Arbeit bis in die heutige Zeit so breiten Anklang finden würde. Märchen sind Sinnbild für den jeweiligen Zeitgeist: Zu Lebzeiten der Grimms spiegelten sich die Vorstellungen des aufstrebenden Bürgertums in den Erzählungen wider. Bis heute werden Märchen stetig neu vor dem aktuellen gesellschaftlichen Hintergrund interpretiert.

Im Märchen „Hänsel und Gretel“ ist der Wald ein wichtiger Ort, der mit einer fantastischen, aber auch furchteinflößenden Anderswelt gleichgesetzt werden kann. Erst im Wald, am Ort des Übergangs, können die Kinder sich ihren Ängsten stellen, erfahren ihre Heimatlosigkeit und finden, erwachsener als zuvor, den Weg zurück nach Hause.

In den meisten Kulturen ist der Wald ein Ort des Gegensatzes zur zivilisierten Gesellschaft. Aber nicht in jeder Kultur hat er die gleiche Bedeutung: Während in „Hänsel und Gretel“ der Wald ein Ort des Übergangs ist, werden im römischen Gründungsmythos Romulus und Remus durch den Wald und die Wölfin gerettet.

Hänsel und Gretel folgen den Kieselsteinen, um wieder nach Hause zu finden.
Zeichnung „Hänsel und Gretel“ von Alexander Zick (1845–1907).

Die Wölfin Luperca säugt Romulus und Remus, die späteren Gründer Roms.
Silberdenar, römische Republik, 137 v. Chr.