Die Ambivalenz des Waldes

Licht und Schatten, Naturgeräusche und Stille, beängstigende Wildnis und erbauliche Harmonie, produktiver Wirtschaftsraum und mußevoller Rückzugsort — der Wald ist ein Raum der Gegensätze und Widersprüche. Die Verschiedenartigkeit der im Wald lebenden Tiere und Pflanzen regt den Menschen zur Reflexion in Erzählungen und Bildern an und lässt uns bis heute die mit dem Wald verbundenen Emotionen erahnen. Das vielschichtige Verhältnis zwischen Wald und Mensch ist wechselseitig: Einerseits prägen, bewahren und verändern menschliche Aktivitäten den Wald, andererseits beeinflusst der Wald auch die menschliche Wahrnehmung.

Doch woher rührt diese faszinierende Vieldeutigkeit? Der römische Dichter Ovid liefert in seinem Epos Metamorphosen eine Ursprungserzählung des Waldes. In dieser versammeln sich, angelockt durch den Gesang des mythischen Sängers Orpheus, verschiedenste Baumarten nebst wilden Tieren und machen den Ort so zu einem schattigen Idyll. Doch die oberflächliche Behaglichkeit trübt sich schnell ein, finden sich doch unter den Bäumen bewegende Schicksale, so dasjenige des Knaben Kyparissos, der wegen seiner Trauer um einen Hirsch von Apoll in eine Zypresse verwandelt wird und in dieser Gestalt ewig weitertrauert. Diesen verwischenden Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze sowie dem Nebeneinander der Stimmungen wollen wir im Folgenden nachspüren.

„Collis erat collemque super planissima campi
area, quam viridem faciebant graminis herbae:
umbra loco deerat; qua postquam parte resedit
dis genitus vates et fila sonantia movit,
umbra loco venit: non Chaonis afuit arbor,
non nemus Heliadum, non frondibus aesculus altis,
nec tiliae molles, nec fagus et innuba laurus,
[…] Adfuit huic turbae metas imitata cupressus,
nunc arbor, puer ante deo dilectus ab illo,
qui citharam nervis et nervis temperat arcum.
[…] Tale nemus vates attraxerat inque ferarum
concilio, medius turbae, volucrumque sedebat.“

„Allda gab’s einen Hügel und oben ein Feld, eine völlig
Ebene Fläche, die einzig ein üppiger Rasen begrünte.
Schatten entbehrte der Ort. Als hier der götterentstammte
Sänger sich niedergesetzt und die Saiten, die klingenden, rührte,
Kam für den Ort der Schatten: nicht fehlte der Baum von Chaonien,
Nicht Heliadengehölz, nicht Eichen mit mächtigen Laubschmuck,
Linden, die weichen, und Buchen, der Ehe entsagender Lorbeer,
[…] Auch die Zypresse erschien, so schlank wie die Säulen im Zirkus,
Heute ein Baum, doch früher ein Knabe, geliebt von dem Gotte,
Der mit den Saiten die Leier regiert, mit der Sehne den Bogen.
[…] Solch einen Hain zog also der Sänger herbei: in der Mitte
Saß er, von Tieren der Wildnis umringt und von Scharen von Vögeln.“
Ovid, Metamorphosen 10, 86–92, 106–108, 143–144 (Übersetzung: H. Breitenbach 1964).

Orpheus-Henkelattasche, römisch, 2.-3. Jh. n. Chr. Bronzeplatte mit gezacktem Rand. Direkt unter dem Loch, an dem der Henkel eines Eimers befestigt war, ragt die als Relief gefertigte Figur des Orpheus hervor. Der Sänger sitzt nach seinem Musikspiel noch mit Lyra und Plektrum in den Händen und betrachtet die zahlreichen Tiere, die sich, von seiner Musik angelockt, um ihn versammelt haben.